AmarantVille
 
Monday, 2. February 2004

Der Großvater gehörte zu der Generation der Patriarchen, denen Ihre Kinder langsam nicht mehr gehorchten. Ich als Enkelkind hatte große Angst vor ihm. Als Teenager beschrieb ich mein Verhältnis zu ihm als finster, nach dem Absolvieren des Grundstudiums als kafkaesk. Heute benutzte ich keine Adjektive mehr, wenn ich an meinen Großvater denke. Was mir von ihm am deutlichsten in Erinnerung geblieben ist, ist sein Schattenriss in Torbogen, der sonnenerleuchtete Hof hinter ihm. Die Faust drohend erhoben. Weil ein paar Butterblumen aus meinem Strauss auf die Pflastersteine gefallen waren. Oder weil ich über das Möhrenbeet gesprungen war und dabei die Kürze meine Beine unterschätzt hatte. Oder weil ich doch mit dem Hofhund gespielt hatte. Oder weil ich gepfiffen hatte. „Mädchen, die pfeifen, und Hennen, die krähn, soll man beizeiten den Hals umdrehn.“ Die Großeltern waren oft zu Besuch. Dann war der Vater hin und her gerissen zwischen seinem nach mehr Strenge für die Kinder verlangenden Vater und den progressiven Erziehungsmethoden seiner Frau. Nach dem Tod der Großmutter fühlte ich mich aus Mitleid dazu verpflichtet, den Großvater so oft wie möglich nach der Schule zu besuchen. Dann saßen wir meist schweigend nebeneinander. Er im Ohrensessel und ich auf dem Holzstuhl. Seine Augen waren starr auf die Bundestagsdebatte im Fernsehen gerichtet. Ich weiß nicht, warum er die Debatten so stur verfolgte. Wir lebten in der DDR, Bezirk Rostock. Wenn mir langweilig wurde, las ich in den schlecht kopierten Vertriebenenzeitungen, die er von seiner Schwägerin aus Nürnberg geschickt bekam. Oder von Freunden, die im gleichen Tal gelebt hatten. Der Großvater hatte vor dem Krieg eine Stoffhandlung mit Schneiderei im Sudetenland besessen. Er hat sich in meiner Gegenwart nie über die Vertreibung beklagt. In seinen letzten Jahren hörte der Großvater auf, mir mit der Faust zu drohen. Er begann, mir über andere Familienmitglieder Anweisungen zu geben. Noch von seinem Sterbebett aus ließ er verlauten, dass ich meinen arbeitslosen Freund verlassen solle. Er starb, während ich Freunde in Berlin besuchte. Als ich in die Wohnung meiner Eltern zurückkehrte, lagen schon die ersten Beileidsbekundungen auf dem Wohnzimmertisch. Die ganze Familie war davon ausgegangen, dass mich der Tod meines Großvaters nicht interessieren würde.

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