AmarantVille
 
Saturday, 10. January 2004

Magdeburg

In der Broschüre steht, dass Magdeburg im Mittelalter als das „neue Rom“ gegolten hat, als eine der reichsten und schönsten Städte Europas. Heute sind die Straßen in der Bahnhofsgegend sind breit und werden von Straßenbahnen zerfahren. Ich hole meinen Stadtplan raus und verlaufe mich mit ihm. Ich müsste nach dem Weg zum Hotel fragen, aber es ist niemand zu sehen. Kein Mensch in den Straßen. Im Hotel liegt mein Zimmerschlüssel schon auf dem Tresen. Der Computer dahinter ist angeschaltet, aber es sitzt niemand davor. Im Zimmer horche ich auf Nachbarn. Keine Geräusche. Ich scheine der einzige Gast zu sein. Im Haus gegenüber steht das Abendessen auf dem Tisch. Das Licht geht an und irgendwann aus. Am nächsten Morgen staune ich über das riesige unberührte Frühstückbuffet. Ich bin allein im Frühstückszimmer. Alle Tische sind gedeckt, nicht ein Teller ist benutzt. Eine Krähe schaut durch das Fenster an meinem Tisch, nickt ein paar Mal und fliegt fort. Aus dem Schornstein der Schule gegenüber quillt Rauch und Kinderstimmen singen Schneelieder. Ich erschrecke, als ich hinter den Gardinen nur leere Klassenzimmer entdecke. Ich lege den Schlüssel auf den Tresen und gehe. Auf dem Weg zum Dom verlaufe ich mich diesmal nicht. Immer noch keine Menschen zu sehen. In der Broschüre steht, dass im dreißigjährigen Krieg in Magdeburg 30.000 Menschen an einem Tag ermordet worden seien, fast die gesamte Stadt vernichtet. Rom nach den Vandalen, Magdeburg nach den Katholiken. Die Menschen sind also nie in diese Stadt zurückgekehrt. Autos fahren durch die Straßen, biegen aber immer mindestens eine Straße vor mir ab. Fahren nie an mir vorbei, damit der Betrug nicht auffliegt. Die Straßenbahnfenster sind verspiegelt, damit der Betrug nicht auffliegt. In den Vorgärten der leer stehenden Häuser scheint der Müll etwas zu pittoresk verteilt. Im Dom steht dann doch ein alter Mann. Er stellt sich als Domführer vor. Ich bin die einzige Zuhörerin. Der Mann hat ein merkwürdig zweidimensionales Gesicht. Ich versuche, ihn von der Seite im Profil anzuschauen, will um ihn herumschleichen, aber er dreht sich mir immer zu und lächelt. Die Falten um die Augen schieben sich fast ganz über die grauen Augen. Er beginnt mit Zahlen 311 Jahre Bauzeit, 32 Meter Höhe. Er erzählt von den Kaisern, Bischöfen und dem Aufwärtsstreben in der gotischen Architektur. Dann vom Lamm Gottes, von Missionierung, Auschwitz, von Verantwortung, die wir in unserem Leben annehmen müssen. Die Führung wird zur Predigt. Ich antworte nicht auf seine Frage, ob ich katholisch oder evangelisch sei. Wir verabschieden uns auf dem Domplatz, und er hebt lächelnd die Hand. In diesem Moment brechen die Wolken auf, und die Sonne scheint durch ihn hindurch.

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last updated: 3/11/10, 10:45 PM
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